Ist man nur mit 4-Tage-Woche und 100 % Homeoffice ein guter Arbeitgeber?

Nach knapp 3 Jahren Erfahrungen mit der 4-Tage-Woche und nahezu 100 % Remote-Arbeit haben wir zum Jahresanfang unsere Arbeitsweise erneut umgestellt. Diesmal auf eine 4,5 – 5-Tage-Woche und mindestens 2 Tagen physischer Zusammenarbeit in unserem Büro. Manche von uns arbeiten seitdem sogar 4–5 Tage im Büro und haben Spaß dabei.

Das dies nicht alle so sehen und wir von besorgten „Coaches“ den ungefragten Rat erhalten, dass „wir mal an unserer Unternehmenskultur arbeiten sollten“, erfahre ich gerade regelmäßig auf LinkedIn, wo ich mich derzeit mit Vorliebe an Diskussionen zu diesem Thema beteilige. Grund genug für mich, einmal einen Blogartikel zu diesem Thema zu verfassen.

Gegen den Trend

Wie uns scheint, agieren wir derzeit vollkommen gegen den Trend. Aber nicht umsonst heißen wir Veraenderungskraft und nehmen uns daher gerne auch zu bestimmten Zeiten noch unpopulären Themen an, die aus unserer Sicht aber einen Vorteil in der Organisation von Arbeit bieten.

Ab 2004 habe ich ein komplett virtuelles Unternehmen geschaffen (soviel zum Thema Remote-Arbeit 😉), mich seit 2010 mit agilen Methoden und seit 2013 mit dem Thema New Work befasst. Allen Themen war zu Ihrer Zeit gemein, dass sie vollkommen unpopulär und überhaupt nicht Mainstream waren und ich deshalb ständigem Unverständnis und Anfeindungen ausgesetzt war.

Angesicht der allgegenwärtigen Diskussion rund um die 4-Tage-Woche, nach dem gefühlt die 100 % Remote-Arbeit inzwischen als der Normalzustand gewertet wird und es regelmäßig Shitstorms in den sozialen Medien gibt, wenn man dieses quasi verbriefte Gewohnheitsrecht des Arbeitnehmers hinterfragt outet man sich ungewollt als jemand, der Ärger und Schmerzen liebt oder gerne als „von vorgestern“ bezeichnet wird, wenn man dazu kritische Worte verliert.

Nichts davon würde ich als zutreffend annehmen, denn aus meiner Sicht löst die 4-Tage-Woche keine Probleme, sondern verschärft diese nur noch.

Hauptprobleme „moderner“, tayloristischer Arbeitswelt

Die Hauptprobleme unserer „modernen“, tayloristischen Arbeitswelt in Deutschland sind meiner Erfahrung nach: 1. Dominante Hierarchiestrukturen und Prozesse (Arbeitsprozesse, Abstimmungsprozesse, Compliance-Regelungen etc.) 2. Eine damit einhergehende veralte Vorstellung von Arbeit, Organisation und Verantwortung (der Arbeitnehmer wird vom deutschen Arbeitsrecht weitestgehend entmündigt und der Arbeitgeber mit einer überbordenden Fürsorgepflicht von seiner unternehmerischen Tätigkeit abgehalten) sowie 3. eine immer stärker werdende Fragmentierung des Arbeitstages durch immer mehr Multitasking (Meetings, Projektarbeit, sonstige betriebliche Verpflichtungen und Austausch).

Die Folge davon ist eine immer stärker werdende Arbeitsbelastung und eine immer weiter sinkende Produktivität. Warten und das damit verbundene beliebte Spiel „ich fange schon mal mit dem nächsten Thema an, um die Wartezeit sinnvoll zu nutzen“ sind inzwischen Normalzustand in deutschen Organisationen. Vom Fehlen der Zeit für echten sozialen Austausch möchte ich gar nicht erst anfangen. Vom bekannten Kanban-Prinzip „Stop starting, start finishing“ sind wir in deutschen Betrieben und Behörden seit der Pandemie weiter entfernt als je zuvor.

Wie kann uns eine 4-Tage-Woche oder 100 % Remote-Arbeit helfen?

Die kurze Antwort lautet: Sehr wahrscheinlich gar nicht. Denn dies sind Konstrukte, die asynchrone Kommunikation und damit Verzögerung und Warten mehr befördern, als dass sie synchrone Teamarbeit zum Lösen komplexer Aufgabenstellungen oder dem Umgang mit komplexen Rahmenbedingungen wie Organisationsstrukturen unterstützen.

Ist ein Unternehmen wie Veraenderungskraft damit ein schlechter Arbeitgeber und verbaut sich in Zeiten des Fachkräftemangels selbst die Zukunft? Auch hier lautet die kurze Antwort: Sehr wahrscheinlich nicht.

Denn anders als die meisten Organisationen, die Themen wie Lean, agiles Arbeiten, New Work etc. und aktuell die 4-Tage-Woche nur anhand des Werbeprospektes des Beraters einführen und vergessen auch den Beipackzettel zu lesen, haben wir uns als Coaches für Arbeitsorganisation intensiv mit diesen Themen auseinandergesetzt und sie selbst ausprobiert.

Wenn uns also jemand dazu rät „an unserer Unternehmenskultur zu arbeiten“, nur weil gerade nicht die 4-Tage-Woche und 100 % Remote-Arbeit feiern, bedeutet dies für mich, dass wir in Deutschland gerade Gefahr laufen, die begonnene Transformation der Arbeitswelt endgültig in den Sand zu setzen, wenn wir versuchen tayloristische Arbeitsstrukturen unter dem Deckmantel des Fachkräftemangels nur noch weiter zu befeuern anstatt unternehmerisches Denken und Handeln und eine systemische Sicht auf Organisationen zu fördern.

Denn aus systemtheoretischer Sicht ist eine 4-Tage-Woche eine lokale Optimierung mit weitreichenden Folgeproblemen für die komplette Organisation. Ähnlich sieht es bei einer überwiegenden Arbeit im Homeoffice aus. Beides sind per se keine schlechten Errungenschaften. Man sollte jedoch die Folgen erkennen und Vorsorge treffen, anstatt damit Menschen anzulocken, die vielleicht nicht optimal zur Aufgabenstellung im Unternehmen passen.

Wenn ich Menschen benötige, die abgegrenzte Aufgaben möglichst gut und effizient abarbeiten, sind beides gute Lösungen. Wenn ich jedoch komplexe Probleme lösen oder komplexe Rahmenbedingungen bedienen muss, benötige ich Menschen, die ebenfalls im Team und mithilfe von intensiver Kommunikation Aufgaben lösen können und möchten. Eine solche Kommunikation kostet Zeit und komplexe Aufgaben sind nicht immer zeitlich genau abschätzbar. Und vielleicht habe ich als Firma auch noch Kunden, die auch mal am Freitag anrufen und nicht glücklich sind, wenn dann das Band läuft „Sorry, wir machen gerade 4-Tage-Woche und haben daher heute unseren freien Tag“. Aber wie man eine 4-Tage-Woche gut umsetzt, ist noch ein anderes Thema, zu dem ich evtl. mal in einem anderen Blogartikel kommen werde.

Mein Fazit

Aus meiner Sicht sind die (unüberlegte) Einführung der 4-Tage-Woche, Workation und Homeoffice Feigenblätter für eine Arbeitskultur des 19. und 20. Jahrhunderts. Das wir diese nach 3 Jahren Erprobungsphase und aus guten Gründen wieder abgeschafft haben, macht uns daher in meinen Augen nicht zu einem schlechteren, sondern zu einem guten Arbeitgeber.

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