Deutsche Einwände gegen Kaizen im Jahr 1952

Viele Unternehmen interessieren sich für Agilität. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter werden in Scrum-Trainings geschickt. Teams und Abteilungen können Beratungs- und Coachingleistungen nutzen. Aber ändert sich wirklich etwas? Werden Probleme gelöst? Ändern sich die Arbeitsbedingungen? Werden bessere Produkte auf den Markt gebracht? Skepsis ist angebracht. Eine Beratergruppe des US-amerikanischen Verteidigungsministerium hat sogar eine einfache Liste veröffentlicht, um vor Agilem Bullshit (Detecting Agile BS) zu warnen. Werfen wir ein Blick in die Geschichte. Nach dem 2. Weltkrieg gab es eine weltweite Welle für kontinuierliche Verbesserungen. In vielen Teilen der Welt war sie erfolgreich. Nur nicht in Deutschland. Und die Gründe der Ablehnung damals klingen seltsam vertraut.

Im 2. Weltkrieg fehlten in den USA Fachkräfte

Im Jahr 1940 gab die amerikanische Regierung ein Ausbildungsprogramm für Fachkräfte für kriegswichtige Industrien in Auftrag. Die zuständigen Experten hatten bereits im 1. Weltkrieg Erfahrungen beim Aufbau eines solchen Programms gesammelt. Sie forderten, dass solch ein Programm von der Industrie selbst getragen werden müsse. Die Regierung stellte Seminarkonzepte, Handbücher und ein landesweites Netz zur Unterstützung der Trainer bereit. Die Trainingsleistungen mussten von den Unternehmen selbst getragen werden. Daher kam der Name “Training Within Industry” (TWI).

Nach dem 2. Weltkrieg boten die USA dieses Programm vielen Ländern an, um den Wiederaufbau der Wirtschaft zu fördern. In Japan gab es praktisch in jeder Fabrik TWI-Trainer. Die TWI-Seminare sind seit den 1950er-Jahren und bis heute die Grundlage für die systematische Ausbildung von Führungskräften und Lieferanten bei Toyota.

TWI stößt in Deutschland auf Skepsis

Auch in Deutschland wurden seit 1948 TWI-Seminare angeboten. Es hatte sich ein Verein zur Verbreitung von TWI gegründet. Im Jahr 1952 veröffentlichte der Stuttgarter Arbeitskreis TWI zur Förderung innerbetrieblicher Arbeitsbeziehungen e.V. einen Artikel mit häufig genannten Kritikpunkten. Der Autor Gerhart Schretzmayr begann den Artikel mit folgenden Sätzen: “Befürworten kann man nur eine Sache, die man kennt und für gut befunden hat; ablehnen kann man sie aber, ohne sie zu kennen und sich von ihrem Unwert überzeugt zu haben. Dies scheint leider der Grundsatz der meisten Gegner des TWI-Programms zu sein.” /1, S. 7/ Sehen wir uns ein paar Kritikpunkte an:

  • “TWI ist ein importiertes amerikanisches Programm; es lässt sich nicht ohne weiteres auf unsere deutschen Verhältnisse übertragen.”
  • “TWI ist im Grunde gar nichts neues; so etwas gibt es bei uns schon lange und besser.”
  • “Man kann Menschen nicht durch ein paar Kurse ändern; deshalb kann TWI höchsten Augenblickserfolge haben.”
  • “TWI mag ja gut sein, aber in den Betrieben ist heute so viel Arbeit, daß die Vorgesetzten nicht die Zeit erübrigen können, auch noch Kurse zu besuchen.”

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Christian Kleinschmidt hat in seiner Habilitationsschrift Zahlen veröffentlicht: “Der quantitative Erfolg der TWI-Programme … lag in Deutschland, gemessen an anderen europäischen Staaten, deutlich niedriger. Während in der Bundesrepublik zwischen Herbst 1948 … und dem Sommer 1952 insgesamt 134 TWI-Lehrgänge durchgeführt wurden, waren es im gleichen Zeitraum in den Niederlanden über 6.000, in Großbritannien sogar mehr als 30.000 und auch die Mitgliedschaft deutscher Unternehmen war vergleichsweise gering.” /2, S. 75/. Weiter heißt es: “Darüber hinaus verfestigt sich der Eindruck, daß … einige Institutionen die Beteiligung an … TWI-Programmen … vor allem dazu nutzten, um an entsprechende Gelder zu gelangen und die eigene Existenz zu legitimieren und zu sichern.”

Es gab einen engen Austausch zwischen deutschen und amerikanischen Unternehmen, Universitäten, Stiftungen und Ausbildungsprogrammen. Doch die Amerikaner stellten damals schon eine gewisse “unwillingness” fest, die es so in amerikanischen Unternehmen nicht gebe.

Das ist interessant, weil die arbeitspsychologischen Grundlagen dieser Programme ihre Wurzeln in Deutschland haben. Dill Scott und Charles Judd waren bei Wilhelm Wundt in Leipzig in der Ausbildung. John Dewey hat seine Doktorarbeit über die Psychologie von Kant geschrieben. Gute Ideen lassen sich offenbar nur dann umsetzen, wenn es dahinter eine langfristige Struktur der Verbreitung und Betreuung gibt.

Warum TWI in Deutschland nicht erfolgreich war

Aus heutiger Sicht betrachtet, war das TWI-Prgamm langfristig in Japan am erfolgreichsten. Nach Ende des 2. Weltkriegs hatten die amerikanischen Unternehmen ihre primäre Motivation für TWI verloren. Der Krieg war gewonnen. Die Wirtschaft in den ehemaligen Kriegsgebieten lag am Boden. Die amerikanischen Unternehmen hatten keine Schwierigkeiten, ihre Produkte loszuwerden.

In Japan wurde nach der Kapitulation die alte Wirtschaftselite entlassen. Die neuen Führungskräfte hatten keine Managementausbildung und waren für jede systematische Hilfe dankbar. Die japanischen Unternehmer wussten, dass die Produktivität in ihren Fabriken nur einen Bruchteil der Fabriken in den USA oder in Deutschland betrugen. Um in diesem Märkten, Produkte verkaufen zu können, musste man sich deutlich verbessern. Die TWI-Kurse waren dafür Mittel zum Zweck.

In Deutschland war die Situation anders. Die Unternehmen waren weiterhin im Familienbesitz. Es gab keinen Grund, die Führungskräfte auszutauschen. Anders als in den USA gab es in Deutschland keine speziellen Business Schools für Manager. An den Universitäten wurde die Theorie gelehrt. Die Praxis musste von allein kommen. Die Versuche, nach dem 2. Weltkrieg in zuverlässiges, landesweites Ausbildungssystem für Führungskräfte aufzubauen, gelangen nicht. Ebenfalls anders als in Japan hatte Deutschland in seinen europäischen Nachbarländern genug Abnehmer für seine Produkte. Yamazaki beschreibt dies ausführlicher in einem Buch zu den Unterschieden in Japan und Deutschland. /3/

Diese Punkte trugen dazu bei, dass man dem TWI-Programm in Deutschland keine große Bedeutung zuschrieb. Es hatte für die Unternehmen keine Relevanz.

Hier ist meine erste Lehre aus dieser Betrachtung: Um Agilität heute ins Unternehmen zu bringen, reicht es nicht, die Vorteile von Scrum anzupreisen. Wir werfen besser auch einen Blick auf die Strukturen im und um das Unternehmen herum.

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