ChatGPT als Scrum Master? Individuen und Interaktionen sind wichtiger als Prozesse und Tools!

Die KI-isierung der agilen Welt: Wenn KI zum Scrum-Coach & Assistenten wird

Wer kennt es nicht? Der LinkedIn-Feed ist überflutet mit Beiträgen zu „KI für Scrum Teams“, „Automatisierte Retrospektiven mit ChatGPT“ oder „KI als Agile Coach Assistenz“. Ich scrolle durch die Postings und frage mich: Haben wir vergessen, worum es bei Agilität eigentlich geht?

Als jemand, der seit 14 Jahren mit agilen Methoden arbeitet und die Entwicklung der agilen Bewegung hautnah miterlebt hat, sehe ich einen gefährlichen Trend. Wir scheinen den ersten und fundamentalsten Wert des Agilen Manifests aus den Augen zu verlieren: „Individuen und Interaktionen sind wichtiger als Prozesse und Tools!“1

Diese zentrale Überzeugung wurde mit Bedacht an die erste Stelle gesetzt. Sie ist das Fundament, auf dem die gesamte agile Philosophie aufbaut. Und ausgerechnet dieses Fundament wird durch den aktuellen KI-Hype untergraben.

Der Hype: KI-Tools als „Heilsbringer“ im agilen Kontext

Der Markt wird aktuell mit KI-Tools für agile Teams geradezu überschwemmt. ChatGPT soll als Scrum-Coach & Assistent fungieren, Retrospektiven moderieren und KI-Assistenten sollen Product Owner unterstützen. Die Frage „Welche Tools der Agilen-Welt nutzen ChatGPT und Co?“ beschäftigt immer mehr Unternehmen. Die Antwort: Nahezu alle. Rund 70–80 % der meistgenutzten agilen Tools haben inzwischen ChatGPT-Integration oder vergleichbare KI-Funktionen2.

Die häufigsten Anwendungsfälle sind: Story-Erstellung, Planung, Meeting-Zusammenfassungen und Entwicklerhilfe. Besonders tiefe Integration haben: Jira AI, GitHub Copilot, ClickUp AI und Notion AI. Für 2025 werden noch mehr Retrospective-Tools mit KI erwartet, die versprechen, den gesamten Prozess zu automatisieren.

Die versprochenen Vorteile klingen verlockend:

     

      • Effizienzsteigerung und Zeitersparnis

      • „Objektive“ Moderation ohne menschliche Vorurteile

      • Skalierbarkeit agiler Prozesse

    Eine Harvard/BCG-Studie behauptet sogar, dass Teams mit generativer KI ihre Geschwindigkeit um 25% und ihre Leistung um 40 % steigern können3. Beeindruckende Zahlen – aber zu welchem Preis?

    Hier steckt ein fundamentaler Widerspruch: Wie passt die Automatisierung von Interaktionen zu einer Bewegung, die aus der Kritik an überprozessierten Vorgehensmodellen entstanden ist? Die agile Bewegung entstand als Gegenentwurf zu starren Prozessen und übermäßigem Tooling. Und jetzt sollen ausgerechnet Tools die Lösung sein?

    Zurück zu den Wurzeln: Was „Individuen und Interaktionen“ wirklich bedeutet

    Um zu verstehen, warum der erste Wert des Agilen Manifests so entscheidend ist, müssen wir uns seine Entstehungsgeschichte vor Augen führen. Im Februar 2001 trafen sich 17 erfahrene Softwareentwickler in Snowbird, Utah. Sie hatten genug von starren Prozessen, die mehr behinderten als halfen. Sie suchten nach einem besseren Weg, Software zu entwickeln – einem Weg, der den Menschen in den Mittelpunkt stellt4.

    „Individuen und Interaktionen sind wichtiger als Prozesse und Tools“ war keine zufällige Formulierung. Sie war eine bewusste Entscheidung, die auf jahrelanger Erfahrung basierte. Die Unterzeichner des Manifests hatten erlebt, dass erfolgreiche Projekte nicht durch die perfekten Prozesse oder die neuesten Tools entstehen, sondern durch die Menschen, die zusammenarbeiten.

    Was bedeutet dieser Wert im Kern?

       

        1. Menschen als Träger von implizitem Wissen und Kreativität: Jedes Teammitglied bringt einzigartige Erfahrungen, Perspektiven und Fähigkeiten mit. Dieses implizite Wissen kann kein Tool erfassen oder simulieren.

        1. Die Dynamik echter Teaminteraktionen: In der direkten Interaktion entstehen neue Ideen, werden Missverständnisse aufgedeckt und Vertrauen aufgebaut.

        1. Der Wert von Konflikten, Emotionen und zwischenmenschlichen Beziehungen: Konflikte sind nicht nur unvermeidlich, sondern wertvoll. Sie bringen unterschiedliche Perspektiven ans Licht und führen zu besseren Lösungen – wenn sie konstruktiv bearbeitet werden.

      Das größte Missverständnis ist, dass agile Methoden primär als Prozesse oder Tools verstanden werden. Sie waren immer Mittel zum Zweck, nie der Zweck selbst. Der Zweck war und ist die Zusammenarbeit von Menschen, die gemeinsam Wert schaffen.

      Die Grenzen der künstlichen „Intelligenz“ im agilen Kontext

      Bei aller Begeisterung für KI dürfen wir ihre fundamentalen Grenzen nicht übersehen, besonders im agilen Kontext. Eine aktuelle Stanford-Studie zeigt, dass selbst spezialisierte KI-Systeme in 17 % oder mehr der Fälle falsche Informationen liefern – ein Problem, das in der sensiblen Interaktionsarbeit eines Coaches fatale Folgen haben kann5.

      Warum würde ChatGPT als Scrum Master scheitern? Hier sind drei konkrete Fallstricke:

      Fallstrick 1: „Objektive“ Retrospektiven ohne Kontext

      Eine gute Retrospektive ist keine mechanische Übung. Sie erfordert ein tiefes Verständnis der Teamdynamik, der Organisationskultur und der subtilen Spannungen, die im Raum liegen. Eine KI kann nur auf Basis von Textdaten handeln – sie kann nicht spüren, wenn jemand zögert, nicht sehen, wenn jemand die Augen verdreht, nicht hören, wenn in jemandes Stimme Frustration mitschwingt.

      In einer Retrospektive, die ich kürzlich moderierte, gab es einen Moment der Stille nach einer kritischen Frage. Diese Stille war bedeutungsvoll – sie zeigte, dass wir einen wunden Punkt getroffen hatten. Eine KI hätte diese Stille wahrscheinlich mit dem nächsten vorprogrammierten Schritt gefüllt und damit die Chance verpasst, in die Tiefe zu gehen.

      Fallstrick 2: Fehlende Authentizität und Vertrauensaufbau

      Vertrauen ist die Währung agiler Teams. Es entsteht durch authentische Interaktionen, durch das Gefühl, dass der Coach wirklich zuhört, wirklich versteht und wirklich präsent ist. Eine KI kann Verständnis simulieren, aber nicht wirklich empfinden.

      Wie Zachary Hanson treffend bemerkt: „Du wirst niemals Soft Skills ersetzen können. Ein unterbewerteter Aspekt des agilen Coachings ist es, verschiedene Stakeholder an einen Tisch zu bringen“6 Eine KI kann keine echten Beziehungen aufbauen oder das komplexe Geflecht organisatorischer Politik durchschauen.

      Fallstrick 3: Keine echte Adaption an Team-Dynamiken

      Jedes Team ist einzigartig. Was bei Team A funktioniert, kann bei Team B scheitern. Ein guter Agile Coach passt seine Herangehensweise kontinuierlich an – nicht basierend auf Algorithmen, sondern auf Intuition, Erfahrung und dem, was im Moment gebraucht wird.

      In unserer Agile Coach Ausbildung bei Veraenderungskraft legen wir großen Wert darauf, diese adaptive Fähigkeit zu entwickeln. Wir lernen nicht nur Methoden und Werkzeuge, sondern vor allem die Sensibilität für Menschen und Systeme. Diese Fähigkeit kann keine KI ersetzen.

      Venn-Diagramm zu 'Mensch vs. KI im agilen Coaching'. Zwei sich überlappende Kreise zeigen die Stärken von Menschen (links, gold) und KI (rechts, hellgelb). Menschliche Stärken: Emotionale Intelligenz, Implizites Wissen, Kreativität/Innovation, Vertrauensaufbau. KI-Stärken: Datenauswertung, Skalierbare Verfügbarkeit, Fehlendes Kontextverständnis, Reproduzierbarkeit. In der Überlappung als 'Komplementäre Stärken' bezeichnet: Dokumentation, Informationsaufbereitung, Analysen. Über dem Diagramm steht 'Individuen und Interaktionen sind wichtiger als Prozesse und Tools'.

      Der sinnvolle Platz für KI: Als Tool, nicht als Ersatz

      Bedeutet das, dass KI keinen Platz in der agilen Arbeit hat? Keineswegs. KI kann ein wertvolles Werkzeug sein – wenn wir sie als solches nutzen und nicht als Ersatz für menschliche Interaktion. Die Frage ist nicht, ob bestimmte Aufgaben automatisiert werden können – natürlich können sie das. Die Frage ist, wo die Grenzen liegen sollten.

      Hier sind Bereiche, in denen KI tatsächlich hilfreich sein kann:

         

          1. Dokumentation und Informationsaufbereitung: KI kann dabei helfen, Meetings zu dokumentieren, Informationen zu strukturieren und Wissen zugänglich zu machen.

          1. Datenanalyse für datengetriebene Entscheidungen: KI kann Muster in großen Datenmengen erkennen und so Insights liefern, die menschlichen Coaches entgehen würden.

          1. Vorbereitung und Nachbereitung von Meetings: KI kann bei der Planung von Meetings helfen, Agenda-Vorschläge machen und bei der Nachverfolgung von Aktionen unterstützen.

        Die positiven Effekte sind messbar: Bei Clear Channel Outdoor führte der Einsatz von KI zu einer Reduzierung des manuellen Aufwands um 60 % – eine Zeitersparnis von 15 Stunden pro Anfrage7. Zeit, die in wertvolle menschliche Interaktionen investiert werden kann.

        Die Grenze sollte dort gezogen werden, wo der Mensch unverzichtbar bleibt:

           

            1. Teambuilding und Konfliktmanagement: Die Fähigkeit, ein Team zusammenzubringen und Konflikte konstruktiv zu lösen, erfordert menschliche Empathie und Präsenz.

            1. Coaching und persönliche Entwicklung: Echtes Coaching geht tief. Es fordert heraus, bietet Unterstützung und schafft Raum für Wachstum – auf eine Weise, die eine KI nicht leisten kann.

            1. Kulturarbeit und Changemanagement: Die Transformation von Organisationen ist ein zutiefst menschlicher Prozess, der Vertrauen, Geduld und echte Führung erfordert.

          Ein Appell an die agile Community

          Warum sind wir so anfällig für den nächsten Tool-Hype? Vielleicht, weil Tools greifbar sind. Sie versprechen schnelle Lösungen für komplexe Probleme. Sie geben uns das Gefühl von Kontrolle in einer unübersichtlichen Welt.

          Aber die eigentliche Herausforderung ist nicht technischer, sondern menschlicher Natur. Agilität war nie ein Prozess oder ein Tool – sie war immer eine Haltung. Eine Haltung, die Menschen und ihre Interaktionen in den Mittelpunkt stellt.

          Wir lernen, wie wir Teams dabei unterstützen können, selbstorganisiert zu arbeiten, wie wir ein agiles Mindset fördern und wie wir echte Veränderung bewirken – durch Beziehungsarbeit, nicht durch Tools.

          Mein Appell an die agile Community: Lasst uns die KI-Tools kritisch prüfen und dem Menschen wieder den zentralen Platz in der agilen Arbeit geben. Lasst uns die Technologie als das nutzen, was sie ist – ein Werkzeug, das uns dienen sollte, nicht umgekehrt.

          Vielleicht brauchen wir nicht mehr, sondern weniger Tools – aber dafür mehr echte Interaktion?

          Menschen statt Maschinen: Der Mensch im Mittelpunkt agiler Werte

          „Individuen und Interaktionen sind wichtiger als Prozesse und Tools“ – dieser Wert ist heute relevanter denn je. In einer Welt, die zunehmend von Technologie durchdrungen ist, müssen wir bewusst Räume für menschliche Begegnung schaffen.

          Die Zukunft liegt nicht darin, dass KI als Scrum-Coach & Assistent menschliche Coaches ersetzt, sondern in einer sinnvollen Zusammenarbeit. Die Retrospective-Tools für 2025 mit KI mögen beeindruckende Funktionen bieten, aber sie können die menschliche Interaktion nicht ersetzen. Henrik Kniberg reflektiert in seinem Artikel „Agile in the Age of AI“, dass die Rolle von agilen Coaches und deren Bedeutung für Teaminteraktionen sich durch KI verändern wird – ein Hinweis darauf, dass KI und menschliche Expertise Hand in Hand gehen müssen8.

          Lasst uns KI als das nutzen, was sie ist – ein Tool, das uns dienen sollte, nicht umgekehrt. Und lasst uns nie vergessen, was im Kern agiler Methoden steht: Menschen, die zusammenarbeiten, um Wert zu schaffen.

          Quellen

             

              1. Beck, K., Beedle, M., van Bennekum, A., et al. (2001). Manifesto for Agile Software Development. Agile Alliance. https://agilemanifesto.org/

              1. Basierend auf einer Analyse der führenden Plattformen 2024/2025, darunter Jira, ClickUp, Asana und Monday.com, die alle KI-Funktionen implementiert haben. https://www.gartner.com/reviews/market/enterprise-agile-planning-tools

              1. Bojinov, I., Lakhani, K. R., & Lane, D. (2023). Navigating the Jagged Technological Frontier: Field Experimental Evidence of the Effects of AI on Knowledge Worker Productivity and Quality. Harvard Business School Working Paper, No. 24-013. https://www.hbs.edu/faculty/Pages/item.aspx?num=64700

              1. Highsmith, J. (2001). History: The Agile Manifesto. Agile Alliance. https://agilemanifesto.org/history.html

              1. Stanford RegLab & HAI. (2024). AI on Trial: Legal Models Hallucinate 1 Out of 6 or More Benchmarking Queries. https://hai.stanford.edu/news/ai-trial-legal-models-hallucinate-1-out-6-or-more-benchmarking-queries

              1. Zenhub Blog. (2024). Will AI take over agile coaching? 3 coaches respond. https://blog.zenhub.com/will-ai-take-over-agile-coaching-3-coaches-respond/

              1. Asana. (2024). Inside Asana’s AI Studio: Transforming Teams with Smart, Automated Workflows. https://asana.com/inside-asana/introducing-ai-studio https://asana.com/case-studies/clear-channel-outdoor

              1. Kniberg, H. (2024). Agile in the Age of AI. Hups.com. https://hups.com/blog/agile-in-the-age-of-ai

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